Aimee ging heute ganz langsam von der Schule
zurück nachhause. Sie hatte keine Eile und dachte verzweifelt: „Was soll ich
tun? Was soll ich nur tun, um diesem Grauen ein Ende zu setzen!“ Sie wollte
nicht für alle Ewigkeit von dem Grau verfolgt werden! Nachdenklich hockte sie
sich für einen kurzen Moment auf den Boden, an einen Baumstamm gelehnt. Sie
versuchte, einen Zusammenhang zwischen allem, was passiert war, herzustellen.
Erstens: Die dunkle Hexe von Arug, die Aimees Vorfahrin gewesen war und
unschuldig verbrannt worden war, hatte dafür gesorgt, dass Aimee die Welt in
grau sah, wenn es um Hexenverbrennung ging. Zweitens: An einem bestimmten Tag
hatte alles begonnen, davor war die Statue völlig unwichtig in Aimees Leben
gewesen. Drittens: Ihre Träume hatten ihr ein kristallenes Schwert gezeigt, mit
dem man anscheinend das Grau zerstören konnte. Aber Aimee wusste nicht, wo sie
dieses wundersame Schwert herkriegen sollte. Sie schloss die Augen und
versuchte, sich zu erinnern. Kämpfe gegen
deine Angst hatte auf dem Schwertknauf gestanden. Aber das hatte sie doch
getan! Sie hatte gegen ihre Angst gekämpft, in dem sie der dunklen Hexe von
Arug gegenüber getreten war. Das Schwert war so unwirklich erschienen, gar
nicht wie ein echtes Schwert. „Ich habe eine graue Seite in mir“, dachte sie
und schlug die Augen auf. Das Grau existierte nur in ihr. Dann wäre es doch
logisch, wenn das kristallene Schwert genauso in ihr existierte? Zwei Seiten,
in Aimee vereint. Diese Erkenntnis erstaunte sie. Die Sache war bloß, von der
Existenz des kristallenen Schwertes war bisher noch nichts zu merken gewesen.
Aimee stand auf und ließ den Blick um ihre
graue Umgebung schweifen. Sie hatte das Gefühl, die grauen Nebel schwächten
sie. Doch momentan konnte sie das gar nicht gebrauchen, schließlich hatte sie
das Grau zu besiegen. Aimee überlegte, ob im Traum der Ausruf, sie würde nach
ihrem Tod weiterleben, so gemeint war, dass sie als Statue praktisch immer auf
der Erde präsent sein würde. „Ich habe alles versucht“, dachte Aimee
frustriert. „Wie soll es weitergehen?“ Sie erhob sich wieder, ruckte ihren
Ranzen zu recht, dann fiel ihr Blick auf den Baumstamm, an den sie sich gerade
gelehnt hatte. Gitta& Henry war
darauf eingeritzt und noch zwei Worte: Liebe
heilt.
Aimee runzelte die
Stirn und ging weiter. Sie schlug bewusst den Weg ein, der an der Hexenstatue
vorbeiführte. Dabei dachte sie daran, wie toll es war, dass Liebe heilen
konnte. Als sie an der eisernen Statue vorbeikam, blieb sie stehen und sah zu
der dunklen Hexe hinauf. Zum ersten Mal empfand sie wirklich Mitleid mit dieser
Hexe, die verbrannt worden war, obwohl sie niemandem etwas Böses getan hatte.
Die grauen Nebel waren noch immer da und schmerzten Aimee, doch sie konnten
nicht verhindern, dass Aimee noch etwas anderes außer Abscheu für die dunkle
Hexe von Arug empfand. Die Statue machte ihr auch immer noch Angst, doch
gleichzeitig hatte sie das Gefühl, sie zu kennen. „Du hast mir fast den
Verstand geraubt“, sagte Aimee fast wie zu sich selbst. „Aber vor so langer
Zeit hast du so viel gelitten. Und deine grauen Nebel sind ein Teil von mir.
Diesen Teil hast du erweckt.“ Stumm blickte Aimee die Statue an. Sie fühlte den
Schmerz in sich, den die Hexe erlitten hatte. Dann dachte sie an all die
Menschen, die sie liebte und mit denen sie mitfühlte und die sie ebenfalls
liebten. Es war ein buntes Gefühl, stellte Aimee fest. Sie blickte an sich
herunter und betrachtete ihr blaues T-Shirt. Es war tatsächlich blau! „Blau!“, dachte sie überrascht.
„Nicht grau!“ Sie hob den Kopf und hätte fast aufgeschrien, als sie
beobachtete, wie sich die Welt um sie herum veränderte. Es war, als würde ein
Regenbogen durch die Gegend fließen und seine Farben überall versprühen. Die
Bäume waren wieder grün, der Erdboden braun und sandfarben, die Blumen am
Wegesrand helllila und der Himmel hellblau. Die Farben schienen neu zum Leben
zu erwachen. Die Statue blieb, wie sie war, dennoch hatte Aimee den Eindruck,
dass ihre Ausstrahlung nicht mehr so düster und trostlos war. Die Statue war
weder so wie ganz am Anfang noch wie vor wenigen Tagen. Es war eine Statue mit
einer langen Geschichte, doch sie war nicht mehr Furcht einflößend. Sie sprang
auf, streifte ihren Ranzen auf und begann, vor lauter Glück, herumzutanzen. Die
schmerzhafte, graue Leere in ihrem Innern hatte sich aufgelöst. Endgültig. Die
Welt war so bunt wie seit Langem nicht mehr. „Das Kristallene Schwert“, schoss
es Aimee durch den Kopf. „Das ist das Kristallene Schwert in mir!“ Ihre Liebe
hatte tatsächlich geheilt. Die bunte Seite in ihr hatte über die grauen Nebel
gesiegt. So schnell würde sie nichts mehr aus der Bahn werfen. Die dunkle Hexe
von Arug hatte sie vollkommen verändert, das wusste sie. ENDE
Text// Pamina Kollien