Mittwoch, 3. Mai 2017

Im Bann der grauen Nebel Teil 6

Aimee ging heute ganz langsam von der Schule zurück nachhause. Sie hatte keine Eile und dachte verzweifelt: „Was soll ich tun? Was soll ich nur tun, um diesem Grauen ein Ende zu setzen!“ Sie wollte nicht für alle Ewigkeit von dem Grau verfolgt werden! Nachdenklich hockte sie sich für einen kurzen Moment auf den Boden, an einen Baumstamm gelehnt. Sie versuchte, einen Zusammenhang zwischen allem, was passiert war, herzustellen. Erstens: Die dunkle Hexe von Arug, die Aimees Vorfahrin gewesen war und unschuldig verbrannt worden war, hatte dafür gesorgt, dass Aimee die Welt in grau sah, wenn es um Hexenverbrennung ging. Zweitens: An einem bestimmten Tag hatte alles begonnen, davor war die Statue völlig unwichtig in Aimees Leben gewesen. Drittens: Ihre Träume hatten ihr ein kristallenes Schwert gezeigt, mit dem man anscheinend das Grau zerstören konnte. Aber Aimee wusste nicht, wo sie dieses wundersame Schwert herkriegen sollte. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern. Kämpfe gegen deine Angst hatte auf dem Schwertknauf gestanden. Aber das hatte sie doch getan! Sie hatte gegen ihre Angst gekämpft, in dem sie der dunklen Hexe von Arug gegenüber getreten war. Das Schwert war so unwirklich erschienen, gar nicht wie ein echtes Schwert. „Ich habe eine graue Seite in mir“, dachte sie und schlug die Augen auf. Das Grau existierte nur in ihr. Dann wäre es doch logisch, wenn das kristallene Schwert genauso in ihr existierte? Zwei Seiten, in Aimee vereint. Diese Erkenntnis erstaunte sie. Die Sache war bloß, von der Existenz des kristallenen Schwertes war bisher noch nichts zu merken gewesen.

Aimee stand auf und ließ den Blick um ihre graue Umgebung schweifen. Sie hatte das Gefühl, die grauen Nebel schwächten sie. Doch momentan konnte sie das gar nicht gebrauchen, schließlich hatte sie das Grau zu besiegen. Aimee überlegte, ob im Traum der Ausruf, sie würde nach ihrem Tod weiterleben, so gemeint war, dass sie als Statue praktisch immer auf der Erde präsent sein würde. „Ich habe alles versucht“, dachte Aimee frustriert. „Wie soll es weitergehen?“ Sie erhob sich wieder, ruckte ihren Ranzen zu recht, dann fiel ihr Blick auf den Baumstamm, an den sie sich gerade gelehnt hatte. Gitta& Henry war darauf eingeritzt und noch zwei Worte: Liebe heilt.

Aimee runzelte die Stirn und ging weiter. Sie schlug bewusst den Weg ein, der an der Hexenstatue vorbeiführte. Dabei dachte sie daran, wie toll es war, dass Liebe heilen konnte. Als sie an der eisernen Statue vorbeikam, blieb sie stehen und sah zu der dunklen Hexe hinauf. Zum ersten Mal empfand sie wirklich Mitleid mit dieser Hexe, die verbrannt worden war, obwohl sie niemandem etwas Böses getan hatte. Die grauen Nebel waren noch immer da und schmerzten Aimee, doch sie konnten nicht verhindern, dass Aimee noch etwas anderes außer Abscheu für die dunkle Hexe von Arug empfand. Die Statue machte ihr auch immer noch Angst, doch gleichzeitig hatte sie das Gefühl, sie zu kennen. „Du hast mir fast den Verstand geraubt“, sagte Aimee fast wie zu sich selbst. „Aber vor so langer Zeit hast du so viel gelitten. Und deine grauen Nebel sind ein Teil von mir. Diesen Teil hast du erweckt.“ Stumm blickte Aimee die Statue an. Sie fühlte den Schmerz in sich, den die Hexe erlitten hatte. Dann dachte sie an all die Menschen, die sie liebte und mit denen sie mitfühlte und die sie ebenfalls liebten. Es war ein buntes Gefühl, stellte Aimee fest. Sie blickte an sich herunter und betrachtete ihr blaues T-Shirt. Es war tatsächlich blau! „Blau!“, dachte sie überrascht. „Nicht grau!“ Sie hob den Kopf und hätte fast aufgeschrien, als sie beobachtete, wie sich die Welt um sie herum veränderte. Es war, als würde ein Regenbogen durch die Gegend fließen und seine Farben überall versprühen. Die Bäume waren wieder grün, der Erdboden braun und sandfarben, die Blumen am Wegesrand helllila und der Himmel hellblau. Die Farben schienen neu zum Leben zu erwachen. Die Statue blieb, wie sie war, dennoch hatte Aimee den Eindruck, dass ihre Ausstrahlung nicht mehr so düster und trostlos war. Die Statue war weder so wie ganz am Anfang noch wie vor wenigen Tagen. Es war eine Statue mit einer langen Geschichte, doch sie war nicht mehr Furcht einflößend. Sie sprang auf, streifte ihren Ranzen auf und begann, vor lauter Glück, herumzutanzen. Die schmerzhafte, graue Leere in ihrem Innern hatte sich aufgelöst. Endgültig. Die Welt war so bunt wie seit Langem nicht mehr. „Das Kristallene Schwert“, schoss es Aimee durch den Kopf. „Das ist das Kristallene Schwert in mir!“ Ihre Liebe hatte tatsächlich geheilt. Die bunte Seite in ihr hatte über die grauen Nebel gesiegt. So schnell würde sie nichts mehr aus der Bahn werfen. Die dunkle Hexe von Arug hatte sie vollkommen verändert, das wusste sie. ENDE

Text// Pamina Kollien

Im Bann der grauen Nebel Teil 5

Abends kam Sebastian in Aimees Zimmer, um sich einen Klebestift von ihr zu borgen. Als er an dem Schreibtisch vorbeiging, fiel sein Blick auf das Bild, das Aimee zuvor gemalt hatte. „Was ist das?“, erkundigte er sich nebenbei. Während Aimee den Klebestift aus ihrer Federtasche herauskramte, meinte sie bloß: „Das ist ein Bild, das ich aus Spaß gezeichnet habe.“ Sebastian würde bestimmt nicht verstehen, dass die Frau auf der Zeichnung eine Hexe war, die Aimees Leben auf den Kopf gestellt hatte, und dass das Kristallene Schwert die Waffe war, die die Grauen Nebel besiegen konnte. „Es sieht ganz schön düster aus“, kommentierte Sebastian die Zeichnung. „Das Gesicht der jungen Frau ähnelt deinem ganz schön. Du hast dich gut gezeichnet.“
„Die Frau sieht mir ähnlich?“, Aimee fuhr hoch, „Das stimmt nicht!“ Es bereitete ihr richtiges Unbehagen, dass die dunkle Hexe von Arug ihr ähneln sollte. „Ach, das bist gar nicht du? Egal“, Achseln zuckend verschwand Sebastian mit dem Klebestift aus ihrem Zimmer.
Aimee ging zum Schreibtisch, um das Bild eingehend zu betrachten. In dem traurigen Gesicht der Hexe versuchte sie irgendwelche Züge zu entdecken, die sie selbst hatte. Aber es war nur ein Bild. Die Hexe war daran schuld, dass ihre Sicht so schnell grau wurde und überhaupt daran, dass Aimees Leben gerade so schief lief. Sie hatte überhaupt gemeinsam mit ihr, das stand fest. So weit kam es noch! Versuch nicht, mich zu besiegen. Du wirst mir nicht entkommen. Die Worte der zum Leben erwachten Hexe aus dem Traum jagten Aimee einen eisigen Schauer über den Rücken. Das klang nach einer ziemlichen Bedrohung. Sie musste sich vor diesem Wesen in Acht nehmen.

Noch in derselben Nacht hatte Aimee wieder aufwühlende Träume.
Sie ging einen Pfad entlang und überquerte einen Bach, auf dessen Wasseroberfläche ihr Spiegelbild zu sehen war. Ein Wassertropfen traf auf die Wasseroberfläche auf und verzerrte das Spiegelbild. Als die Wasseroberfläche wieder ruhig war, erblickte Aimee nicht mehr ihr eigenes Antlitz, sondern das der dunklen Hexe von Arug. Sie erschrak vor sich selbst und trat schnell ans andere Ufer. Doch dann verschwamm die Umgebung um sie herum und sie spürte, dass ihr Stricke die Arme fast abschnürten. Als sie sich panisch umblickte, hätte sie beinahe laut aufgeschrien. Sie war an einen Pfahl gefesselt, ihre Kleidung war zerrissen und um sie herum tanzten hohe Flammen. In weiter Ferne konnte sie die Umrisse der Menschenmenge erkennen, die sich um den Scheiterhaufen versammelt hatten. „Du bist eine Hexe!“, ertönte eine unbarmherzige Männerstimme. „Mit deinen Kräften hast du unzählige Menschen ins Verderben gestürzt! Für deine Sünden wirst du jetzt mit deinem eigenen Leben zahlen müssen!“ Aimee spürte die immer näher kommende Hitze, während sie unglaubliche Angst spürte. So große Angst wie noch nie in ihrem ganzen Leben. Sie hatte doch nichts getan! Als sie den Mund öffnete, um lauthals zu schreien, kam kein Ton heraus. Die Verzweiflung nahm ihr die Stimme. Nun war alles aus. Im Stillen betete sie, dass die Qual kurz sein möge und sie so schnell wie möglich starb. „Nun wirst du für deine grausamen Taten sterben!“, hörte sie wieder die Männerstimme und nun sah sie auch die Person, die da sprach. Voller Hass starrte sie in seine Richtung. Wegen seiner Unbarmherzigkeit musste sie sterben. „Du wirst mich töten!“, schrie sie auf einmal. „Aber besiegen kannst du mich damit nicht! Der Tod wird mich nicht besiegen. Ich werde nach meinem Tod weiterleben und du wirst mir nicht entkommen!“ Die Flammen züngelten schon um ihre Füße, wie gierige Monster, die sie auffressen wollten.
Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Aimee schreckte schweißgebadet aus ihren Träumen hoch. Das Licht der Straßenlaterne vor ihrem Haus leuchtete durch die Ritzen den Rollos, ansonsten war es dunkel. Mit einem Blick auf den Nachttischwecker, dessen grüne Ziffern in der Dunkelheit leuchteten, wurde ihr klar, dass es mitten in der Nacht war. Allerdings war ans Einschlafen gar nicht zu denken, nachdem ihr dieser Alptraum durch den Kopf jagte. Also knipste sie ihre Lichterkette an, kuschelte sich unter die Bettdecke und nahm das Bild zur Hand, auf dem sie die Hexe von Arug und das kristallene Schwert gezeichnet hatte. Ein eisiger Schauer lief ihr den Rücken herunter, als ihr in den Sinn kam, dass sie im Traum zugleich sie selbst- Aimee- gewesen war, aber andererseits auch die Hexe. In dem Traum hatte sie gerufen, dass der Tod sie nicht besiegen könne und sie weiterleben würde. Aimee hatte es in der Gestalt der Hexe gerufen. Dabei war die Hexe ihre Gegnerin und für die schrecklichen, grauen Nebel verantwortlich. Aber das Grau sah nur sie. „Die grauen Nebel sind wie ein Bestandteil von mir“, kam es Aimee in den Sinn, obwohl es das Allerletzte war, was sie sich vorstellen wollte. Denn nichts ist schlimmer, wenn man feststellt, dass das, was man fürchtet und mit aller Kraft besiegen will, sich in einem selbst befindet. Wie konnte Aimee etwas besiegen, was sich in ihr selbst befand? Das war doch paradox! Andererseits wäre es eine Antwort.
„Du siehst sehr unausgeschlafen aus“, stellte Mama ein paar Stunden später fest, als Aimee am Frühstückstisch saß und über die grauen Nebel nachgrübelte. Sebastian dagegen, der sowieso nicht viel Schlaf benötigte, blätterte putzmunter in seiner Schulmappe. „Endlich habe ich den Stammbaum für den Geschichtsunterricht fertig gekriegt“, erzählte er ausgelassen, während Aimee nur mit halbem Ohr zuhörte. „Dafür hast du die ganzen Urkunden und Fotoalben gebraucht?“, wandte sich Mama nun an ihn und nippte an ihrem Kaffee. „Genau“, Sebastian nickte heftig. „Ich habe in den letzten Wochen auch ganz viel nachgeforscht. Unter unserem Namen und so weiter. Ein ganz entfernter Vorfahre von uns war sogar ein Herzog. Wenn ich für meine Ahnenforschung keine Eins kriege, bin ich so was von sauer.“ „Und war ein Uhrahn unsererseits auch zum Beispiel oberster Diener des Papstes?“, meinte Aimee ein klein wenig ironisch, obwohl sie noch so müde war. „Nein, das nicht“, Sebastian war in seinem Element. „Aber dafür kann ich dir was anderes bieten: Die Schwiegertochter des Herzogs wurde angeblich wegen Hexerei angeklagt.“ Aimee war froh, dass sie auf einem Stuhl saß, sonst wäre sie vermutlich zu Boden gegangen. „Wir haben also eine Hexe als Urahnin“, sagte Sebastian gutgelaunt, ohne Aimees Verblüffung zu bemerken. „In der Nähe von uns steht sogar ein Denkmal von ihr, glaube ich. Wir findest du das?“ „Diese Statue im Park, meinst du?“, mischte sich Mama ein, die fasziniert den Ausführungen ihres Sohnes folgte. Darauf konnte Aimee leider nichts erwidern, sie stand nämlich auf und ging auf die Toilette. Im Gehen hörte sie noch, wie Sebastian fortfuhr: „Der Hexe wurde dieses Denkmal gesetzt, weil sie viele Menschen geheilt hat.“ Dort musste sie wieder erst ihre Gedanken ordnen. Das konnte doch nicht wahr sein! Die dunkle Hexe von Arug war eine Urahnin von ihr. Krasser ging es eigentlich nicht mehr. Und sie war an den grauen Nebeln schuld. Die dunkle Seite in ihr selbst. Aimee machte die dunkle Hexe Angst. Aber wenn die grauen Nebel ein Teil von Aimee waren, musste sie ja Angst vor sich selbst haben. Aimee betrachtete sich selbst im Badezimmerspiegel: Mittellange braune Haare, grüne Augen und eine Stupsnase. „Aimee“, sagte sie zu sich selbst. „Du musst etwas tun! Und zwar, bevor dir dieser ganze Wahnsinn über den Kopf wächst!“ Aimee im Spiegel sah sehr ernst aus. Für einen kurzen Moment hatte sie Angst, das Gesicht der dunklen Hexe im Spiegel zu sehen, doch es passierte nichts.
„Das ist ja der Wahnsinn“, sagte Laura, nachdem Aimee ihr alles  auf einer etwas abgeschiedenen Ecke des Pausenhofs erzählt hatte. „Die grauen Nebel sind nicht verschwunden. Sonst würde ich das merken.“ Betrübt starrte sie geradeaus. Laura hatte auch keine Idee, was man da noch tun könne.

Text// Pamina Kollien

Im Bann der grauen Nebel Teil 4

Auf dem Schulweg begann Aimee plötzlich, sich wieder an den Traum zu erinnern. Die dunkle Hexe von Arug war zum Leben erwacht und hatte Aimee bedroht. Doch auf ihrer Flucht war das Kristalle Schwert aufgetaucht, in dem alle Farben des Regenbogens leuchten. Kämpfe gegen deine Angst. So hatte die Inschrift auf dem Griff geheißen. Bestimmt hatte dieser Traum Aimee was zu sagen. Anscheinend sollte sie gegen das Grau kämpfen. Sie dachte daran, dass sie heute wieder ab der Geschichtsstunde alles in grau sehen würde und es schnürte ihr das Herz vor Angst zusammen. Es kam ihr vor wie ein Fluch. Ein Fluch, den die Hexe von Arug ausgesprochen hatte. Aber vielleicht gab es eine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, dass die Welt ergraute. Hoffnung flammte in ihr auf. Es lag an ihr, dagegen anzukämpfen, und zwar gleich heute. Sie ballte die Fäuste und beschloss, nicht einfach so aufzugeben.
Herr Hagel teilte ein Arbeitsblatt mit einem Bild, auf dem eine Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, aus und gab der Klasse den Auftrag, sich Notizen dazu zu machen. Dieses Bild kannte Aimee bereits. Das trostlose Grau begann, wieder in ihr aufzusteigen. „Nein!“, dachte Aimee verkrampft. „Kämpfe! Du musst kämpfen!“ Sie stellte sich eine schützende Wand vor, die sich zwischen ihr und das Bild stellte. Dennoch sah sie das Leid der vermeintlichen Hexe, während um sie herum alles wieder seine Farbe verlor. Die imaginäre Wand half überhaupt nicht. Wieder einmal war sie in der grauen Welt gefangen. In ihrer Verzweiflung konnte sie nicht anders: Die aufsteigenden Tränen brachen aus ihr heraus und strömten über ihr Gesicht. Es gab kein Halten mehr für sie. Laura nahm sofort tröstend ihre Hand und bat Herrn Hagel, kurz mit Aimee rausgehen zu dürfen, was er dann auch erlaubte. Auf dem Flur herrschte im Gegensatz zu der Klasse eine angenehme Stille. Doch Aimee spürte den großen, dunklen Schmerz in ihrem Herzen, den sie sich gar nicht wirklich erklären konnte. „Nun sag mir doch, was los ist“, meinte Laura sanft und sie wiegte Aimee ganz leicht. „Weinst du, weil unser Thema so schrecklich findest? Oder ist da noch mehr?“ Aimee brauchte ein wenig, um zu antworten, weil ihr der Kummer den Hals zuschnürte. „Da ist noch mehr“, deutete Laura Aimees Schweigen. Da brach aus Aimee die Geschichte mit der dunklen Hexe von Arug heraus und mit den Nebeln und dem Traum von dem kristallenen Schwert. Laura nickte nur, aber sie sah nicht so aus, als hielte sie ihre Freundin für komplett durchgeknallt.

„Du siehst jetzt wirklich alles in grau?“, fragte sie fast ein wenig ehrfürchtig auf dem Heimweg. „Ja“, erwiderte Aimee und wischte sich die Tränen von der Wange. „Ich weiß, es klingt verrückt, aber…“ „Ich verstehe es schon“, meinte Laura. „Du brauchst also eine Art Schwert, mit dem du die Hexe besiegst?“ „Ich weiß es nicht“, sagte Aimee leise. „Aber es kann so nicht weitergehen. Ich muss etwas tun.“ „Du musst dich den grauen Nebeln oder wie auch immer du das nennst stellen“, meinte Laura. „Das habe ich heute schon getan“, schluchzte Aimee. „Und es hat nicht geklappt.“ „Du hast die Hexe von Arug im Traum gesehen, nicht wahr?“, sagte Laura angestrengt nachdenkend.
„Dann ist sie es, die ich besiegen muss. Mit ihr hat doch alles begonnen“, führte Aimee den Gedanken zu Ende. Ja, Laura musste Recht haben. „Wenn ich es schaffe, die Hexe von Arug zu besiegen, dann kann ich damit auch die grauen Nebel besiegen. Und zwar für immer.“ „Wie willst du es schaffen, eine steinerne Hexe zu besiegen?“, erkundigte sich Laura. „Wie willst du das denn machen?“ „Ich weiß es noch nicht“, Aimees Augen blitzten entschlossen. „Aber irgendwas muss ich tun. Und jetzt ist die Welt bereits sowieso für den restlichen Tag grau. Dann kann ich noch heute zu der Statue gehen und irgendwas tun, um sie zu besiegen. Was habe ich heute zu verlieren?“ Und das tat sie dann tatsächlich. Die Statue stand wie immer an ihrem Platz, nichts hatte sich geändert. Nur für Aimee hatte sich etwas geändert. Sie schaute der Hexe ins Gesicht, doch das Grau hielt an und veränderte sich nicht. Ihr Herz klopfte wie wild, sie spürte die Angst in sich, die sie sich nicht erklären konnte, und ließ die Hexe von Arug, die ihr wie ein Monster vorkam, nicht aus den Augen. Die kummervollen, hasserfüllten Augen blickten ins Leere und alles in Aimee wollte sich umdrehen und davonlaufen. Aber sie blieb stehen und starrte die unheimliche Statue an, während sie gar nicht sagen konnte, wie viel Zeit verging. Sie erwartete beinahe, dass irgendwas geschah, dass ihr Herz aufhörte, so schnell zu pochen, und dass das Grau sich um sie herum veränderte. Doch es passierte nichts. Das Grau war nach wie vor da, die Hexe Arug verharrte in ihrer Position und Stille umgab sie. „Warum tust du mir das an?“, sagte Aimee laut, obwohl sie sonst eigentlich nicht mit leblosen Statuen sprach. Dies hier war allerdings auch keine gewöhnliche Statue. „Warum machst du mir das Leben so schwer, in dem du mir so viel Angst machst? Du nimmst die Farbe aus meiner Welt. Alles machst du mir damit kaputt. Aber du wirst mich nicht klein kriegen. Ich gebe nicht auf, bevor das aufhört, dunkle Hexe von Arug.“ Die Statue verharrte weiterhin still, während Aimee zitternd auf sie zuschritt. Was konnte sie jetzt noch tun, um die grauen Nebel auszulöschen? Kämpfe gegen deine Angst. Das tat sie doch schon, gerade jetzt, in diesem Moment. Was würde noch mehr Mut erfordern? Die dunkle Hexe von Arug zu berühren? Aimee schritt immer weiter auf die graue Statue zu, während ihr Herz fast zu zerspringen drohte. Doch sie achtete nicht darauf. Sie musste jetzt kämpfen. Dann streckte sie zitternd die Hand aus und berührte die Hexe an der Kapuze. Der Stein fühlte sich kühl an, nicht anders als bei anderen Statuen. Aimee biss sich auf die Lippe und fragte sich, was sie hier eigentlich tat. Sie wollte es schaffen, das Grau zu besiegen. Aber dies hier war eine Statue. Wie wollte sie eine Statue besiegen? Sie hob den Kopf, ohne daran zu denken, dass ihr Herz kurz vorm Zerspringen war und dass alles um sie herum grau war. Die Augen der dunklen Hexe blickten starr und leblos in die Ferne. Aimee hasste diesen Blick, doch am allermeisten hasste sie das Grau. Sie trat einen Schritt zurück- im nächsten Moment erblickte sie das kleine Messingschild, das sich auf dem Rücken der Hexe befand. Es war schon ganz eingerostet und so kaum noch lesbar, doch irgendwas in Aimee sagte, dass sie es lesen sollte. Je mehr man über seinen Gegner wusste, desto besser konnte man ihn besiegen. Und das war schließlich Aimees größtes Ziel. Ganz plötzlich war ihr Leben komplett aus den Fugen geraten, sie wurde mit Dingen konfrontiert, die sie vorher noch gar nicht für möglich gehalten hatte. Und zwar von einem Tag auf den anderen. Plötzlich musste sie stark sein.
So beugte sie sich vor, um den kurzen Text auf dem Schild zu lesen.

Die dunkle Hexe von Arug war eine junge Frau, die ungefähr 1590 gelebt hat. In einer Hütte am Dorfrand hat sie Heiltränke gebraut und die anderen Dorfbewohner damit geheilt. Als der Sohn einer reichen Kaufmannsfamilie an einer Vergiftung starb, wurde sie beschuldigt, eine Hexe zu sein und seinen Tod herbeigeführt zu haben. Daher wurde sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Aimee wurde ganz schwindlig, nachdem sie es gelesen hatte. Sie wusste nicht, was sie jetzt fühlen oder denken sollte. In ihr herrschte absolute Leere. Langsam wandte sie sich um, wie betäubt und ohne den Park um sich herum wirklich wahrzunehmen, und ging nachhause. Sie rannte nicht, sondern ging ganz langsam.
Als sie zuhause ankam, war das Haus leer, denn ihre Mutter war einkaufen gegangen und Sebastian befand sich mit ein paar Freunden auf den Fußballplatz. Aimee war es ganz recht, das Haus für sich alleine zu haben, so konnte sie ungestört verarbeiten, was vorhin geschehen war. Die dunkle Hexe von Arug hatte es wirklich gegeben und sie hatte ein grausames Schicksal erleiden müssen. Die Statue stellte diese Frau dar, die vor langer Zeit existiert hatte. So viele Gedanken wirbelten durch Aimees Kopf, sodass sie es nicht mehr aushielt und schließlich in Tränen ausbrach. Sie weinte darüber, dass alles um sie herum grau war, darüber, dass sie so schreckliche Gefühle erlebt hatte, die sie aus der Bahn warfen, und über das Schicksal der Hexe. Aimee hatte nichts Schlimmeres als die grauen Nebel erlebt, doch das, was der dunklen Hexe selbst widerfahren war, war viel schlimmer. Einem innerem Impuls folgend, griff Aimee nach einem Bleistift und einem Blatt Papier, um darauf die Hexe zu zeichnen. Innerhalb kurzer Zeit entstand ein Bild, auf dem die Statue der dunklen Hexe, deren lange Haare aus der Kapuze fielen. Ihre Augen waren voller tiefer Traurigkeit und ohne Hoffnung, gleichzeitig war ihr Blick aber auch hasserfüllt. Aimee war über sich selbst erstaunt, weil sie es geschafft hatte, die Statue ziemlich naturgetreu zu zeichnen. Auf dem Bild war der Nebel, der die Hexenstatue umhüllte, ebenfalls festgehalten. Zuletzt zeichnete Aimee das Kristallene Schwert, das auf den Nebel gerichtet war, und malte es in bunten Farben aus. Es war ein bizarres Bild. Auf einer Seite das Grau und der Schmerz, auf der anderen Seite das Bunte und Kraftvolle.

Text//Pamina Kollien

Im Bann der grauen Nebel Teil 3

In der Pause standen Laura und Aimee mit jeweils einem Franzbrötchen in der Hand auf dem Pausenhof, während Laura eifrig von dem vergangenen Wochenende erzählte, an dem sie mit der Familie zelten gegangen war. „Es war wirklich abenteuerlich. Wir haben uns tatsächlich am Bach gewaschen“, meinte Laura gerade begeistert, ganz und gar in ihren Bericht vertieft, dann hielt sie plötzlich inne, um Aimee prüfend anzuschauen, die gerade noch immer darüber nachgrübelte, was eigentlich hier passiert war. „Was stimmt eigentlich nicht mit dir?“, platzte es aus ihr heraus. „Du hörst mir gar nicht zu, das merke ich doch!“ „Ich…“, Aimee zögerte einen Augenblick. „Ich weiß es nicht. Ich habe vorhin gesagt, alles wäre so grau. Das ist wirklich so!“ „Aimee“, Laura schaute auf einmal ganz ernst. „Schon gut. Wenn du irgendein Problem hast, dann raus damit!“ Aimee zögerte wieder und sah in Lauras erwartungsvolles Gesicht. Es war doch alles so verrückt. Wie sollte sie es Laura erklären? In dem Moment klingelte die Pausenglocke und nahm ihr die Entscheidung ab. „Komm schon“, meinte Aimee und sprang hastig auf. „Gehen wir!“

Es war ein schrecklicher Tag. Ein Tag voller Düsternis und Trostlosigkeit, die einem im Herzen wehtun. Genau dieses Gefühl besaß Aimee an diesem Tag. Sie fühlte sich ganz elend, als sie abends fröstelnd unter die Bettdecke kroch. Draußen goss es wieder einmal wie aus Kübeln. Es war, als würde der Himmel anstelle von Aimee in Tränen ausbrechen. Sie zog sich die Bettdecke über den Kopf und fragte sich, warum es nicht eine Löschtaste gebe, mit der man einzelne Tage einfach löschen könnte. Aber so einfach war es im Leben dann doch nicht. Ihr kam ein schrecklicher Gedanke: Was war, wenn sie nie wieder in bunt sehen könnte? Wenn die Welt von nun an nur noch grau wäre? Wenn sie nie wieder das strahlende Blau das Himmels, das sanfte Rot der Tulpen im Vorgarten und das leuchtende Orange ihrer Gardinen am Fenster sehen könnte? Aimee wurde ganz schlecht vor lauter Angst. Sie schaffte es kaum, einzuschlafen. Doch als sie am nächsten Morgen erwachte, war das erste, was sie sah, die knallorangen Gardinen am Fenster. Aimee blinzelte und langsam wurde ihr bewusst, dass ihr Zimmer ganz und gar in bunten Farben leuchtete. Das Grau war verschwunden. Vor lauter Erleichterung seufzte sie einmal tief und drehte sich um die eigene Achse, um sich zu vergewissern, dass alles so wie vorher war. War das, was gestern passiert war, nur ein Traum? Doch in ihrem Innern wusste Aimee, dass es kein Traum war. So verrückt es auch alles sein mochte.

In den nächsten Tagen verdrängte sie die Tatsache, dass sie an dem einen Tag alles in grau gesehen hatte und redete sich ein, dass dies alles gar nicht geschehen war. Laura sprach Aimee glücklicherweise auch nicht mehr daran.
Am nächsten Montag kam Aimee in den Geschichtsunterricht und setzte sich völlig arglos auf ihren Platz, wie immer. Ihr Geschichtslehrer Herr Hagel klatschte in die Hände. „Heute beginnen wir ein neues Thema“, verkündete er, nachdem er die Anwesenheitsliste durchgegangen war. „Die Hexenverbrennung.“ Mit den Worten heftete er mit ein paar Magneten ein großes Bild an die Tafel, auf dem eine Frau zu sehen war, die an einem Pfahl gebunden war, während um ihre Füße Flammen aufloderten. Ein grausames Bild, fand Aimee und schauderte. In den Augen der vermeintlichen Hexe, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, stand blanke Angst. Aimee hatte das Gefühl, dass sie kein Bild sah, auf dem mit ein paar einfachen Strichen etwas gekritzelt worden war, sondern etwas, dass wirklich passiert war. Am liebsten wäre sie aufgestanden und davongelaufen, um diese grausame Bild nicht mehr sehen zu müssen. Doch sie blieb wie erstarrt sitzen und wandte den Blick nicht ab, während sie bemerkte, dass die Welt um sie herum immer blasser wurde. Und sie selbst auch. Die Farbe verschwand und wich wieder dem trostlosen Grau. „Nein“, dachte Aimee mit verkrampften Händen. „Nein! Nicht schon wieder!“ Aber sie konnte nichts dagegen tun.

Die nächsten Wochen wurden schrecklich für Aimee, da sie jede Geschichtsstunde das Thema Hexenverbrennung hatten. Sie begriff mit der Zeit, dass dieses Grau, oder die Grauen Nebel, wie sie sie nun nannte, weil sie sich so boshaft in ihre bunte Welt schlichen, mit den Hexen zu tun hatte. Schließlich hatte alles mit der Statue der dunklen Hexe von Arug begonnen.
„Du bist so blass“, bemerkte Laura, nachdem Aimee und sie nach einer weiteren grauenvollen Geschichtsstunde die Klasse verließen, die wieder einmal jegliche Farbe verloren hatte. „Magst du das Thema nicht?“ „Es ist abscheulich“, erwiderte Aimee und hatte das Gefühl, gleich heulen zu müssen. „Die Hexenverbrennungen waren wirklich schrecklich“, stimmte ihr Laura zu. „Versuch, es nicht allzu ernst zu nehmen.“ Doch wie sollte Aimee etwas nicht ernst nehmen, was dafür sorgte, dass sie alles in grau sah?



Aimee schritt durch den Park, während es bereits dämmerte. Alles um sie herum war still, während die Sonne hinter den Bäumen unterging. Sie betrat die Lichtung, auf der Statue der dunklen Hexe stand. Doch an dem Ort stand die Statue nicht mehr, stattdessen war da ein leerer Fleck Sandboden. Verwirrt hielt Aimee inne: Wo war die Statue geblieben? Kurz darauf hörte sie ein Geräusch neben sich und wandte sich um. Neben ihr stand eine Kapuzengestalt, deren Haare fast bis zur Hüfte reichten. Es war die dunkle Hexe, allerdings war sie jetzt nicht mehr aus Stein, sondern lebendig. Aimee blieb wie erstarrt stehen. Sie wollte weglaufen, so schnell sie konnte, doch sie war unfähig, sich zu bewegen. Sie war wie gelähmt, während ihr Herz raste. Alles um sie herum wurde grau. Die dunkle Hexe schaute sie direkt an und in ihren Augen lag eine unglaublich tiefe Traurigkeit. Ihr Gesicht war bleich und ohne Leuchten. Als sie den Mund öffnete, kam kein Ton heraus, aber Aimee sah, welche Worte sie mit dem Mund formte: Versuche nicht, mich zu besiegen. Du wirst mir nicht entkommen.
Auf einmal kam Leben in Aimee. Sie drehte sich um und rannte davon, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Auf dem Weg erblickte sie dann etwas Leuchtendes. Der Gegenstand bestand aus einem geschliffenen Kristall, der die Form eines Schwertes hatte. Und in diesem Schwert spiegelten sich alle Farben des Regenbogens, obwohl alles andere um Aimee herum grau war. Nun verlangsamte sie ihr Tempo und bückte sich, um nach dem Schwert zu greifen. Auf dem Schwertknauf waren die Worte Kämpfe gegen deine Angst eingemeißelt.
„Aimee!“, schrie jemand, im nächsten Moment erwachte Aimee aus ihrem seltsamen Traum. Sie hatte keine Einzelheit davon vergessen. „Komm, beeil dich“, sagte Mama und strich Aimee über den Kopf. „Du musst zur Schule.“
Die hatte allerdings hatte noch nicht ganz realisiert, dass sie geweckt worden war, und richtete sich mühsam auf.
Irgendwas unglaublich Merkwürdiges hatte sie geträumt. Doch das Seltsame war, sie konnte sich gar nicht an ihren Traum erinnern. Sie wusste nur, dass er sehr eindrucksvoll gewesen war. Beim Frühstück versuchte sie, sich mit aller Kraft daran zu erinnern, doch sie wusste es nicht mehr. Als sie die Augen schloss, huschte ein Bild in allen Farben des Regenbogens durch ihren Kopf. „Guten Morgen, Aimee!“, rief in dem Moment Sebastian, der hellwach zur Küchentür herein sprang und seine Schwester damit aus ihren Gedanken riss. Er war absolut ein Morgenmensch, sodass er morgens als einziger in der Familie schon vollkommen munter war. 
Text// Pamina Kollien

Im Bann der grauen Nebel Teil 2

Sobald sie das Haus betrat, schlug ihr ein verführerischer Duft aus der Küche entgegen, dem sie sofort folgte: Mama hatte einen Kartoffelauflauf für Aimee und ihren Bruder Sebastian zubereitet. „Wie war denn euer Tag?“, erkundigte sich Mama interessiert, während Sebastian sich gleich auf seine Portion Kartoffelauflauf stürzte und Aimee zaghaft einen Bissen kostete, denn wirklichen Hunger hatte sie nicht. „Gut!“, schmatzte Sebastian mit vollem Mund und versenkte seine Gabel in den Kartoffelscheiben. „Meine Mannschaft hat heute das Fußballspiel in der Schule gewonnen. War alles wie immer.“ Sebastians größte Leidenschaft war nämlich Fußball, im Gegensatz zu seiner Schwester.
„Und bei dir, Aimee?“, Fragend hob Sebastian eine Augenbraue, während er sich die nächste Gabel voll Kartoffelauflauf in den Mund stopfte. „Ja, alles wie immer“, murmelte Aimee und erst, als sie es aussprach, spürte sie, dass es eine Lüge war. Nichts war wie immer. Irgendwas war anders. Aber was? Natürlich konnte sie Mama und Sebastian nicht erklären, dass etwas anders war und dass es etwas mit der Statue im Park zu tun hatte. „Was ist denn anders?“, würden sie fragen und das konnte Aimee selbst nicht beantworten. Außerdem war es schon fast lächerlich, wegen einer blöden Statue solch komische Gefühle zu haben. Einfach nur lächerlich!

Im Laufe der nächsten Tage machte Aimee einen großen Bogen um die Statue, aber es gelang ihr, sie für die meiste Zeit aus ihrem Kopf zu verbannen. Für unheimliche Begegnungen mit einer Statue war in Aimees  Kopf kein Platz. Doch dann irgendwann träumte sie einen merkwürdigen Traum.
Sie befand sich in einer riesigen steinernen Halle, die aus grauem Stein gebaut war. Wassertropfen rannen die Steinwände hinab, doch selbst das Wasser hatte die graue Farbe der Wände angenommen. Aimee blickte sich unbehaglich um. Hier schien tatsächlich alles grau zu sein. Sie blickte an sich selbst hinab und hätte beinahe aufgeschrien. Selbst sie war grau! Ihre Hose und ihre T-Shirt waren grau und ihre Arme und Hände auch. Als sie einen Wassertropfen, der wie eine Träne an dem Felsen hinabkullerte, mit den Augen verfolgte, erblickte sie ihr Spiegelbild darin, das tatsächlich vollkommen grau war. Ihre Haare, ihre Lippen, ihre Wangen und selbst ihre Augen schimmerten grau und hatten jeglichen Glanz verloren. Aimee bekam es mit der Angst zu tun, denn das dieser Ort so trostlos und ohne Farbe war, war schlimm genug, doch dass auch sie selbst alle Farben verloren hatte, war noch um einiges erschreckender. Sie rannte los, nur weg von diesem Ort, an dem eine unerklärbare Leere herrschte. Doch nirgendwo war ein Ausgang zu erkennen, aus dem sie hätte fliehen können. Oben, unten und an allen Seiten war grauer Stein. Erschöpft ließ sich Aimee auf die Knie fallen, während sich große Angst in ihr breitmachte. Es gab keinen Ausweg. Sie war gefangen in dieser Leere und Trostlosigkeit. Außerdem war hier eine derartige Stille, die nicht friedlich und beruhigend
 war, sondern einfach nur unheimlich und voller Schmerz.

Dann plötzlich erwachte Aimee und schauderte bei dem Gedanken an ihren schrecklichen Alptraum. Sie war in einer grauen Höhle eingesperrt gewesen, in der sie sich so schrecklich gefühlt hatte wie noch nie in ihrem ganzen Leben. Und das Schlimmste war gewesen, dass auch sie selbst grau geworden war.
„Ich muss heute noch einkaufen fahren“, erklärte Mama gut gelaunt am Frühstückstisch, mit einer Tasse Tee in der Hand. Im Gegensatz zu ihrer Tochter war sie bereits hellwach. „Ich kann dich dann gleich bei der Schule absetzen.“ „Prima“, war das einzige, was Aimee an diesem Morgen dazu sagen konnte.
Wenig später saßen die beiden im Auto, während Aimee aus dem Beifahrerfenster starrte und die Welt an sich vorüberziehen ließ. Andere Autos, die sie überholten, rückten in Aimees Blickfeld, die Bäume des Parks- und dann eine eiserne Kapuzengestalt. Sie fuhren gerade in der Nähe der Statue vorbei. In Aimee schrillten auf einmal alle Alarmsirenen, doch äußerlich blieb sie ganz ruhig. „Was ist los?“, dachte sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Verdammt! Was ist nur mit dieser blöden Statue?“ Sie schloss die Augen für wenige Sekunden, dann öffnete sie sie wieder. Ihr Blick fiel wieder auf das Beifahrerfenster, durch dessen Scheibe sie wieder andere Autos sah- lauter graue Autos. Nichts Ungewöhnliches. Doch als Aimee den Baum sah, erschrak sie: Der Stamm des Baumes war grau, jedes einzelne Blatt in der prächtig blühenden Baumkrone war grau. Graue Bäume gab es nicht! Aimee drehte den Kopf panisch herum, doch ihre Befürchtung bewahrheitete sich: Alles um sie herum war grau. Es war, als befinde sie sich im Schwarzweißfilm. „Der falsche Film ist es allemal!“, dachte sie panisch und blickte zu ihrer Mutter. Doch der schien nichts Ungewöhnliches aufgefallen zu sein, sie war damit beschäftigt, das Auto durch den Verkehr zu lenken. Es musste eine Sinnestäuschung sein, was hier vor sich ging. Jedenfalls war es nicht mehr normal. Allmählich wurde es gruselig. Aimee blickte an sich herunter: Doch der Schwarzweißfilm, in dem sie sich befand, war zu perfekt. Sie war auch grau. Der Traum durchzuckte sie und nun bekam sie es langsam mit der Angst zu tun. Aimee war zum Schreien zumute, doch sie hielt den Mund.
In der Schule angekommen, versuchte sie zu vergessen, dass alles um sie herum grau war. Da sie allerdings, egal, wo sie hinblickte, alles in grau sah, konnte sie es nur schwer vergessen. „Ist alles in Ordnung?“, wollte Aimees Tischnachbarin Laura wissen, der Aimees betrübter Gesichtsausdruck aufgefallen war. „Irgendwie ist die Welt gerade so grau“, murmelte Aimee unverständlich, während sie ihre Buntstifte sortierte, die ebenfalls jegliche Farbe verloren hatten, Es war wirklich gruselig. „Solche Tage gibt es“, nickte Laura nachdenklich. „Da erscheint einem alles nur traurig und dunkel. Aber schau, was ich heute trage“, Sie deutete auf ihr T-Shirt, das in Aimees Augen natürlich auch keine Farbe besaß. „Knallpink vertreibt jegliche düstere Laune.“ Für Laura mochte das stimmen, für Aimee leider jedoch nicht. Im Unterricht war Aimee ziemlich abgelenkt und fragte sich die ganze Zeit, warum sie alles in grau sah. So, als hätte sich ein grauer Nebelschleier über die Welt gelegt. Alles erschien so unwirklich.

Text// Pamina Kollien

Im Bann der grauen Nebel Teil 1

Diese Geschichte schrieb ich 2011, nachdem mich einiges zu diesem Thema inspiriert hatte.

Im Bann der grauen Nebel

Alles begann mit der unheimlichen Statue. Jeden Tag ging Aimee durch den kleinen Park, in dessen Mitte eine eiserne Statue stand. Sie durchquerte ihn, wenn sie zur Schule ging, auf dem Weg zum Einkaufen war oder die Bushaltestelle erreichen. Täglich ging sie zuerst über den kleinen Pfad, dann über den breiten Sandweg, der zwischen ein paar Bäumen längs führte, und dann an der Statue vorbei zur Straße. Die Statue stellte eine Frau in einem weiten Umhang dar, deren langen Haare fast bis zur Hüfte reichten. Aimee wusste nicht viel über diese Statue, sie hatte nur mal das kleine Messingschild gelesen, auf dem stand Die dunkle Hexe von Arug. Aber sie machte sich nie viele Gedanken darüber, außerdem ging sie so oft an der Statue vorbei, dass sie sie gar nicht mehr wahrnahm. Da ahnte sie noch nicht, dass sich das bald ändern würde.

An einem Tag stand Aimee morgens auf und stellte als allererstes fest, dass sich ihre Füße wie Eisklumpen anfühlten. Kein gutes Zeichen, fand sie. „Nimm einen Regenschirm mit, Liebes“, sagte Mama, nachdem sie aus dem Fenster geschaut hatte und Aimee sich gerade auf dem Weg zur Haustür befand. „Es schüttet wie aus Eimern, sieh dir das mal an! Das ist ja unglaublich!“
Wenig später rannte Aimee mit triefend nassem Haar durch den Park, während sie mit dem Regenschirm kämpfte, der sich durch den starken Wind immer wieder umkrempelte und ihr so überhaupt keine große Hilfe war. Am besten wäre es gewesen, gleich zuhause zu bleiben und sich mit einer Tasse heißen Kakao aufzuwärmen. Stattdessen lief sie hier durch den Regen, bis auf die Knochen durchnässt. Die Bäume zogen an ihr vorbei und schließlich auch die Statue, die Aimee im Grunde gar nicht mehr sah. Doch heute war es anders. Heute sah sie die Statue auf eine Art, wie sie es noch nie getan hatte. Eigentlich warf sie nur einen Blick darauf. Die eiserne Frau mit der Kapuze blickte in die Ferne, während der Regen ihr übers Gesicht rann. Es sah fast aus, als weinte sie. Doch Aimee war sich sicher, dass die Tränen nicht nur traurig und voller Schmerz wirkten, sondern auch voller Hass. Plötzlich blieb sie stehen und warf einen zweiten Blick auf die Statue, da sie nicht glauben konnte, solch einen Ausdruck in den Blick einer belanglosen Statue zu deuten. Es war doch bloß eine Statue!
 Trotzdem fühlte sich Aimee ganz seltsam, als sie das Gesicht der Kapuzengestalt betrachtete: Sie hatte das Gefühl, die Statue blickte sie direkt an, während der Regen über ihre Wangen lief. Aimee blickte sich um: Es war der Park, durch den sie jeden Tag ging. Doch irgendwas war anders. Aber Aimee konnte unmöglich sagen, was. Sie wandte den Blick von der unheimlichen Statue ab und rannte davon.
Nach der Schule ging sie extra einen Umweg durch den Park, um nicht an der Statue vorbeizumüssen. Es war zwar albern, aber irgendwie machte die Statue Aimee Angst.

Text// Pamina Kollien

Die Geschichte vom kleinen schwarzen Affen in der Wüste


Eine weitere Wunschgeschichte für meine Großeltern in Teenagerzeiten ist diese hier, über den kleinen schwarzen Affen in der Wüste. :)

In Afrika wurden einmal drei Affenbabys auf die Welt gebracht. Sie besaßen rotbraunes Fell, bis auf eines, das rabenschwarz war. Die Mutter nannte den Schwarzen Swart, was afrikanisch ist und nichts anderes als schwarz bedeutet. Der kleine Affe hatte eine sehr glückliche Kindheit bei seiner Mutter und seinen Geschwistern, doch er wunderte sich immer wieder, warum er schwarz und nicht rotbraun war. „Manche Affen haben eben eine andere Fellfarbe“, versuchte seine Mutter ihm zu erklären, als Swart sie danach fragte. „Jeder ist ein bisschen anders. Du eben ganz besonders.“ Darüber musste er öfters mal nachdenken. Als er erwachsen war und bei einigen anderen Affen lebte, fielen ihm die Worte der Mutter wieder ein. So griff er sich eine Banane und zog sich in einen Baumwipfel zurück. Als er die Spitze des größten Baums seines Zuhauses erklomm, sah er in der Ferne eine Ebene, die kein Ende zu haben schien. So oft war der Affe auf diesen Baum geklettert und hatte in die Ferne geblickt. Doch jetzt, als er sah, dass auf der Ebene etwas schwer Erkennbares, Weißes stand, packte ihn ganz plötzlich die Abenteuerlust. Er wollte sich das geheimnisvolle Etwas mal genauer ansehen. Noch in derselben Nacht verließ der Affe den afrikanischen Wald und betrat die baumlose Steppe, die sich im Mondlicht vor ihm erstreckte. Nun stellte er fest, wie riesig das weiße Ding, was er gestern gesehen hatte, war. Vorne hatte es einen weißen Propeller, der sich in einer atemberaubenden Geschwindigkeit drehte; es hatte zwei weiße riesige Flügel und kleinere, kreisförmige Füße. Ein wenig unheimlich fand Swart dieses Ding schon und er überlegte, ob das ein riesiger Vogel wäre. Merkwürdigerweise bewegte sich der Vogel aber überhaupt nicht und deshalb beschloss Swart, einmal in das Loch in der Seite reinzuschlüpfen. Drinnen befanden sich ein paar Polster, die so einladend aussahen, dass der kleine Affe beschloss, ein kleines Nickerchen zu machen. Nach geraumer Weile erwachte er von einem heftigen Rumpeln, Piepstönen und lauten Stimmen. Menschenstimmen! Der Affe bekam es plötzlich mit der Angst zu tun und sah sich erschrocken um: Er befand sich immer noch in dem Riesenvogel, nur dass dieser sich bewegte. An den kleinen, runden Fenstern zogen Wolken vorbei und es war hellblauer Himmel zu sehen. Als Swart einen Blick aus dem Fenster warf, wurde ihm klar, dass der Riesenvogel mit ausgebreiteten Schwingen durch die Luft segelte, weit weg vom Erdboden. Das Herz des Affen begann heftig zu pochen vor Angst und Aufregung zugleich. Aus dem Vorderteil des Riesenvogels waren Menschenstimmen zu hören, doch in dem Raum mit den Polstern war Swart allein. Bis zur Landung kam es ihm wie eine Ewigkeit vor, doch dann war er erleichtert, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Er verlor keine Zeit und schlüpfte durch den Eingang, durch den er hineingekommen war, sobald es ihm möglich war. Da, wo er sich befand, war Sand, nichts als heißer Sand, der von der Sonne angewärmt worden war und zwischen seinen Zehen hängen blieb. Er rannte und rannte, weit weg von dem unheimlichen Ding, das ihn hierher transportiert hatte. Weit und breit war kein Baum zu sehen, auf den er hätte klettern können, und somit auch keine einzige Banane oder Kokosnuss, die seinen Hunger stillen könnte. Es gab nur Sand und Steine, soweit das Auge reichte. Irgendwann ließ er sich erschöpft in den Sand fallen und blieb bis zu dem Einbruch der Nacht liegen. Dann erhob er sich, um weiter und weiter durch die schier endlose Wüste zu wandern. Er wusste nicht, wohin, und doch hoffte er, dass irgendwas dort in der Ferne war, was ihn von diesen Massen von Sand erlöste. Der Mond leuchtete ihm den Weg und Swart blickte hoffnungsvoll in die Ferne, sah aber nur Sand und Finsternis. Doch plötzlich konnte er noch etwas erkennen: Ein imposantes, viereckiges Gebäude aus mehreren Steinen mit einer Spitze. Es war eine Pyramide. Dieser Anblick gab dem Affen Kraft, sodass er schneller und schneller wurde. Noch vor dem Morgen war er dort angelangt. Still und einsam lag die Pyramide vor ihm, umgeben von Sand. Swart hatte sich noch nie in seinem Leben so einsam und verlassen gefühlt wie jetzt.
„Hallo, wer bist du denn?“
 Diese Stimme kam ihm wie ein Wunder in all dieser Einsamkeit vor und er drehte sich langsam um, um zu sehen, wer da gesprochen hatte. Ein schwarzer Affe, ungefähr so groß wie er, hockte neben ihm, mit einem Bund Bananen in der Faust, die er Swart überreichte. Hungrig machte sich Swart über das leckere Essen her, während er sich vorstellte. „Ich heiße Swita“, verkündete die Affendame freundlich und biss ebenfalls in eine Banane. „Du siehst so aus wie ich. Also musst du ein Affe sein.“ „Du hast auch schwarzes Fell wie ich“, meinte Swart verwundert und musterte Switas Fell. „Ich habe sonst noch nie einen Affen mit schwarzem Fell gesehen.“ Es machte ihn richtig glücklich, jemanden gefunden zu haben, der mit ihm so viel gemeinsam hatte. „Wo hast du die Bananen her?“, wollte er dann wissen, während er sich erneut eine griff. „Ich zeige dir es“, erwiderte die Affendame und kletterte auf die Steine der Pyramide. Sie führte ihn zu einer Nische in den Steinen, von der ein kleiner Pfad durch die Pyramide ging. Smart überlegte, ob sie hier einen Vorrat an Bananen lagerte, doch dann erblickte er einen kleinen, unterirdischen Bach. In der Decke aus Steinen darüber befand sich ein großes Loch, sodass Licht auf das Wasser fiel. „Das ist das Geheimnis“, erklärte Swita und deutete ans Ufer des Bachs, an dem Bananen- und Kokospalmen standen. „An dieser Stelle hat sich glücklicherweise sehr viel Wasser angesammelt. Wo Wasser ist, ist Leben.“ Swart war sehr fasziniert von der Behausung seiner neuen Freundin. Er dachte an all die Einsamkeit in der weiten Wüste und spürte, wie glücklich er hier war. Umzukehren wäre sowieso ein großes Wagnis. Also blieb er und zwar für immer. Er wohnte mit Swita an dem Bach, kletterte täglich auf den Kokospalmen herum und eines Tages auch mit einer Schar kleiner Affenkinder. Sie waren allesamt schwarz, bis auf eines, das rotbraun war. Als Swart bemerkte, dass seine rotbraune Tochter sich über ihre Fellfarbe, die so anders als die anderen war, wunderte, sagte er liebevoll: „Jeder ist ein bisschen anders. Du ganz besonders. Und weißt du, weit weg von hier gibt es noch andere rotbraune Affen.“                                                                                           
Text// Pamina Kollien